Auf den ersten Blick scheint Anonymität eine Lösung für fast alle beschriebenen Probleme zu sein. Starke Anonymität verhindert das Tracking durch kommerzielle Datensammler, schränkt die Überwachungsmöglichkeiten der "Dienste" ein, bietet Whistleblowern Schutz....

Neben den unbestreitbaren Vorteilen hat Anonymität aber auch Schattenseiten. Einige kleine Denkanstöße sollen zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit Anonymität anregen.

Am Beispiel ANONYMOUS sieht man einige Nachteile deutlich. ANONYMOUS ist als Protest­gruppe gegen Scientology gestartet und mit dem Einsatz der "low orbit ion canone" (LOIC) gegen Banken zur Unterstützung von Wikileaks bekannt geworden. Später belauschte ANONYMOUS angeblich den E-Mail Verkehr der lettischen Botschaft und veröffentlicht selektiv belastende E-Mails von Klitschko. (Oder war das der russische GRU im Rahmen der Propagandaschlacht um die Krim?). Das Label ANONYMOUS kann jeder Hanswurst für beliebige Zwecke missbrauchen und die Bewegung diskreditieren.

Reputation, Vertrauen, Respekt und Verantwortung sind an Persönlichkeit gebunden. Dabei muss Persönlichkeit nicht unbedingt mit einem realen Namen verbunden sein. Reputation und Respekt kann man auch unter einem Pseudonym oder als eine Gruppe erwerben, wenn man Verantwortung für seine Handlungen oder die Gruppe übernimmt.

Im Schutz der Anonymität muss man aber keine Verantwortung für sein Handeln übernehmen, da Fehlverhalten oder gesellschaftlich unerwünschte Handlungen nicht sanktioniert werden können. In einem Diskussionsforum kann man sich verbale Entgleisungen erlauben, ohne negative Reputation für seine Person fürchten zu müssen. Man verwendet in Zukunft einfach einen neuen anonymen Account und beginnt von vorn. (Das habe ich schon öfters erlebt.) Dieser Umgang mit Anonymität ohne Verantwortung stört im einfachen Fall nur. Es kann aber auch schwerere Auswirkungen haben.

Ein anonymer Schwarm vereinzelter Individuen kann sich zu einem Shitstorm zusammen­finden. Der Schwarm kann kurzzeitig viel Lärm produzieren ohne gesellschaftlichen Diskurs und wird dann wieder zerfallen. Er wird kein "Wir" entwickeln und keine gemeinsamen Ziele verfolgen, die über einen kurzzeitigen Hype hinaus gehen. Außerdem lassen sich Wellen der Empörung leicht durch eine kritische Masse anonymer Sockenpuppen manipulieren.

Ein Beispiel, um den Konflikt zwischen Anonymität und Vertrauen zu zeigen:
  1. Ich kann mir ganz anonym in meiner Einsiedlerzelle mit einem Anonymisierungsdienst bei YouPorn, RedTube, XHamster....
  2. Oder ich kann eine Frau im Arm halten, die sich sehnsuchtsvoll an mich drängt, ihre Haut spüren, das gegenseitige Begehren fühlen und eintauchen in einen Strudel der...

Variante 1) die Anonymität ist gewahrt, aber es bleibt gähnende Leere und Einsamkeit.

Variante 2) funktioniert nur mit gegenseitigem Vertrauen und Respekt. Um die Liebesbriefe gegen mitlesende, sabbernde Schlapphüte zu schützen, ist jedes Mittel zulässig, aber Krypto, anonyme E-Mail usw. sind nur Werkzeuge, kein Selbstzweck.

Für ein soziales Zusammenleben und gemeinsame Ziele brauchen wir Vertrauen und Reputation. Vertrauen kann missbraucht werden, man muss es nicht leichtfertig verschenken. Es ist aber wichtig, einen Weg zu finden, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen.

Das Beispiel kann man auf beliebige Gebiete übertragen. Es gilt für politische Aktivisten, die genug haben von der Demokratiesimulation und dem Stillen Putsch etwas entgegen setzen wollen. Und es gilt für Mitglieder im Kleintierzüchterverein, die in den Suchergebnissen bei Google nicht ständig Links für Kaninchenfutter finden wollen. Welche Werkzeuge angemessen sind, hängt von den konkreten Bedingungen ab.